Akt II  
         
    Zirkusschule    
    Madame Claire    
       

Elena wusste, dass sie spät dran war, als sie die Tür des Wohnwagens aufstieß, den sie zusammen mit Lynn bewohnte. Da an diesem Nachmittag praktisch die Generalprobe anstand, hatte sie ihre Haare gewaschen, Lippenstift aufgetragen und die für die Aufführung kunstvoll gestalteten Flügel an ihrem Kostüm befestigt. Eigentlich hätte Lynn ihr helfen können, doch von der Zauberin war weit und breit nichts zu sehen.
Elena nahm einen tiefen Atemzug und sprang von der Schwelle. Beinahe fühlte sie sich, als könne sie wirklich fliegen. Leichten Schrittes eilte sie zunächst zum Lagerfeuer, wo ein Lehrer ihr eine geröstete Kartoffel in die Hand drückte, und dann zum großen Zirkuszelt. Elena wartete das Ende einer Pferdedressur ab, dann hatte sie das geräumige Zelt für sich.
Am Abend sollte Rob mit seinem Einrad hinzustoßen, denn sie planten eine gemeinsame Choreografie. Wenn der sich nicht wieder drückte...
Die Akrobatin befestigte zwei lange, rote Tücher an Eisenhaken im Zeltinnendach. Dann erklomm sie das eine, kletterte bis ganz nach oben und präsentierte sich einem nicht vorhandenen Publikum. Sie wickelte sich ein, vollführte eine Rolle und ließ sich elegant heruntergleiten, bis zu einer aufgestapelten Mauer aus Holzklötzen, von der Rob sie in der Vorstellung auffangen würde.
"Buhuuu!" Ein Gesicht tauchte hinter der Mauer auf! Nicht Robs, sondern das schwarz angemalte Antlitz eines kräftigen Mannes, dessen Augen eine purpurne Maske verdeckte. Der Fremde kicherte: "Rob ist nicht da, Rob ist nicht da. Plumps, da liegt sie unten, arme, kleine Elena!"
"Was soll das! Mir machst du keine Angst", entgegnete die Angesprochene, die noch halb an dem Tuch baumelte.
"Das ist es ja! Das ist die Gefahr! Sei furchtsam, sei ängstlich, kleine, arme Elena."
Das Mädchen ließ sich auf die schmale Mauer gleiten, blickte nun auf den merkwürdigen Eindringling herab. Der trug einen unscheinbaren, schwarzen Overall mit einer Vielzahl Taschen. Kein Kleidungsstück, das sie schon einmal bei jemandem gesehen hätte. Dazu kam, dass der Mann seine Stimme verstellte. "Wer bist du, gib dich zu erkennen!"
"Das Phantom ist getarnt, das Phantom hat's geahnt, arme, kleine Elena ist gewarnt!" Dann wandte sich der Fremde um und rannte. Bevor er unter einer Zeltplane verschwand, blickte er noch einmal zurück und warf der verdutzten Akrobatin ein winziges, glitzerndes Objekt zu.
"Ich habe keine Angst! Wir sind gut, wir haben geübt", rief Elena in den leeren Raum. Doch ihre Stimme zitterte dabei. "Ich meine... wir werden noch üben, heute Abend, bestimmt." Die Akrobatin senkte den Blick und begutachtete den kleinen, metallenen Gegenstand, den sie gefangen hatte: einen Schlüssel...
Und als Elena ganz in Gedanken von der Holzmauer rutschte, da erblickte sie noch ein anderes Objekt auf dem staubigen Boden. Sie bückte sich und hob eine Art hohlen Gummiball auf, an einem Band...

XII. Der Gehängte   XIV. Mäßigkeit