Lynn war gekränkt. Niemals würde sie einem Tier etwas
zu Leide tun. Niemals. Nicht sie! Lynn liebte Tiere, und sie respektierte
jedes einzelne, so wie sie jeden Menschen respektierte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es war Lynns Art, Probleme allein
zu lösen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie geriet schon bei
dem Gedanken ins Schwitzen, dieses Unglück jemand anderem, womöglich einem
Erwachsenen, erklären zu müssen. Nur musste sie sich eingestehen, dass
sie diesmal keinen Plan besaß. Mit Entführungen hatte die junge Zauberin
noch nicht zu tun gehabt.
So hatte sie eine Weile im Gras vor dem geöffneten Käfig gesessen und
überlegt, wie, wann und wo sie ungerecht zu Rudi und Trudi gewesen sein
sollte. Als sie jedoch eingesehen hatte, dass alle Vorwürfe, die sie gegen
sich selbst erheben mochte, sie letztlich auch nicht auf eine Lösung bringen
würden, war sie zu dem Wohnwagen zurückgekehrt, den sie sich seit drei
Wochen mit Elena teilte.
Sie fand ihr Heim verlassen vor. Sicher übte die Mitbewohnerin ihren Auftritt
im Zirkuszelt. Die selbstgebauten Flügel für ihr Kostüm hatte sie jedenfalls
mitgenommen. Schön für sie!
Auf dem Tisch lagen noch immer allerlei Bastel-Utensilien, auch der Stapel
Zeitungen von Lynn, die daraus einen Magierhut mit Sternen gefertigt hatte.
'Der jetzt nutzlos ist', dachte sie.
Lynns Blick fiel auf eine Zeitung vom letzten Wochenende. Die Leserbrief-Seite
war aufgeschlagen. Ein Text weckte die Aufmerksamkeit der Zauberin.
"Tiere sind kein Spielzeug! Wie jeden Sommer hat wieder der Zirkus Peperoni
seine Zelte bei Talbach aufgeschlagen. Man verspricht Spaß, Spannung und
waghalsige Attraktionen. Wie es hinter dieser Fassade gespielten Frohsinns
aussieht, wird jedoch verschwiegen. Haben Tiere Spaß, die die Hälfte ihres
Daseins eingepfercht in engen Transportboxen verbringen? Spüren Tiere
Spannung oder sind sie vielmehr gestresst und angespannt, wenn sie von
Dresseuren unter Androhung von Gewalt zu unnatürlichem Verhalten gezwungen
werden? Wer fragt schon einen Pudel, ob er frisiert oder in lächerliche
Kleider gestopft werden will?"
Hier fühlte sich die Artistin angesprochen. Gleichzeitig wusste sie nun
aber auch, was sie zu tun hatte. Unter dem Brief waren zwei Namen angegeben:
"A. Schulz und J. Lipinski, Talbach."
Lynn schnappte sich ihren Kapuzenpullover und begab sich noch einmal auf
den Weg ins Tal. Am Ortseingang von Talbach fand sie eine öffentliche
Telefonzelle, wo sie in einem Telefonbuch die beiden Namen nachschlug.
Es gab eine Reihe Schulzs, und vier von ihnen hatten einen Vornamen mit
A. Dagegen fand sie nur zwei Lipinskis und - oh Wunder! - eine von ihnen
hieß Julia, und sie besaß dieselbe Adresse wie eine Anne Schulz.
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