Akt II  
         
    Zirkusschule    
    Madame Claire    
       

Lynn war gekränkt. Niemals würde sie einem Tier etwas zu Leide tun. Niemals. Nicht sie! Lynn liebte Tiere, und sie respektierte jedes einzelne, so wie sie jeden Menschen respektierte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es war Lynns Art, Probleme allein zu lösen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie geriet schon bei dem Gedanken ins Schwitzen, dieses Unglück jemand anderem, womöglich einem Erwachsenen, erklären zu müssen. Nur musste sie sich eingestehen, dass sie diesmal keinen Plan besaß. Mit Entführungen hatte die junge Zauberin noch nicht zu tun gehabt.
So hatte sie eine Weile im Gras vor dem geöffneten Käfig gesessen und überlegt, wie, wann und wo sie ungerecht zu Rudi und Trudi gewesen sein sollte. Als sie jedoch eingesehen hatte, dass alle Vorwürfe, die sie gegen sich selbst erheben mochte, sie letztlich auch nicht auf eine Lösung bringen würden, war sie zu dem Wohnwagen zurückgekehrt, den sie sich seit drei Wochen mit Elena teilte.
Sie fand ihr Heim verlassen vor. Sicher übte die Mitbewohnerin ihren Auftritt im Zirkuszelt. Die selbstgebauten Flügel für ihr Kostüm hatte sie jedenfalls mitgenommen. Schön für sie!
Auf dem Tisch lagen noch immer allerlei Bastel-Utensilien, auch der Stapel Zeitungen von Lynn, die daraus einen Magierhut mit Sternen gefertigt hatte. 'Der jetzt nutzlos ist', dachte sie.
Lynns Blick fiel auf eine Zeitung vom letzten Wochenende. Die Leserbrief-Seite war aufgeschlagen. Ein Text weckte die Aufmerksamkeit der Zauberin.
"Tiere sind kein Spielzeug! Wie jeden Sommer hat wieder der Zirkus Peperoni seine Zelte bei Talbach aufgeschlagen. Man verspricht Spaß, Spannung und waghalsige Attraktionen. Wie es hinter dieser Fassade gespielten Frohsinns aussieht, wird jedoch verschwiegen. Haben Tiere Spaß, die die Hälfte ihres Daseins eingepfercht in engen Transportboxen verbringen? Spüren Tiere Spannung oder sind sie vielmehr gestresst und angespannt, wenn sie von Dresseuren unter Androhung von Gewalt zu unnatürlichem Verhalten gezwungen werden? Wer fragt schon einen Pudel, ob er frisiert oder in lächerliche Kleider gestopft werden will?"
Hier fühlte sich die Artistin angesprochen. Gleichzeitig wusste sie nun aber auch, was sie zu tun hatte. Unter dem Brief waren zwei Namen angegeben: "A. Schulz und J. Lipinski, Talbach."
Lynn schnappte sich ihren Kapuzenpullover und begab sich noch einmal auf den Weg ins Tal. Am Ortseingang von Talbach fand sie eine öffentliche Telefonzelle, wo sie in einem Telefonbuch die beiden Namen nachschlug.
Es gab eine Reihe Schulzs, und vier von ihnen hatten einen Vornamen mit A. Dagegen fand sie nur zwei Lipinskis und - oh Wunder! - eine von ihnen hieß Julia, und sie besaß dieselbe Adresse wie eine Anne Schulz.

VIII. Recht   XII. Der Gehängte