Akt II  
         
    Talbach    
    Madame Claire    
       

Just als Lynn die Telefonzelle verlassen hatte, hatte es zu regnen begonnen. Doch sie hatte einfach die Kapuze dichter ins Gesicht gezogen und war unbeirrt ihrem Ziel entgegengeschritten.
Nun stand sie vor einem Talbacher Studentenwohnheim. Der Adresse der mutmaßlichen Ganovinnen Schulz und Lipinski. Dem Schild an der Tür entnahm Lynn, dass die Wohnung, die sich die zwei Frauen mit drei weiteren Studenten teilten, im 1. Stock liegen musste, und zwar auf der Rückseite des Gebäudes.
Lynn umrundete das Haus und identifizierte die Fenster, von denen sie glaubte, dass sie zu der Wohngemeinschaft gehörten. Hinter einer halb aufgestoßenen Scheibe brannte Licht. Ein Durcheinander aus Essensgerüchen drang heraus.
'Ich hab' auch was zu essen dabei', dachte Lynn und zog eine Schachtel Hundekuchen hervor. Dann kletterte sie.
Hier machte sich endlich auch das körperliche Training der Zirkusschule einmal bezahlt, denn es gelang Lynn mit wenigen Zügen entlang der Dachrinne in Reichweite des Küchenfensters zu kommen.
Sie platzierte einen Hunde-Leckerbissen auf der Fensterbank, duckte sich und wartete angespannt.
Tatsächlich vernahm sie ein Hecheln.
Als der Hund heran war, streckte Lynn ihre Finger aus und formte das Zeichen still zu sein, das sie den Pudeln beigebracht hatte.
Trudi erschien! Leise hob sie die Hündin hinaus und glitt an der Dachrinne herab.
Von drinnen war Lachen zu hören. Scheinbar war das Manöver unbemerkt über die Bühne gegangen.
Lynn holte nun auch Rudi auf die gleiche Art.
Ein Donner krachte! Die Retterin bemerkte erst jetzt, wie stark es eigentlich regnete. Sie hatte zwei begossene Pudel auf der Straße - als Beweis ihrer Tierliebe? Das war unverantwortlich!
Lynn hatte gesehen, dass die Fensterbank der Küche zur Dekoration mit Decken ausgelegt war. Also kletterte sie noch ein drittes Mal.
Diesmal war ein Gesicht hinter der Scheibe! Eine junge Frau mit buntgefärbten Haaren.
Lynn zog an den Decken. Dabei übersah sie ein Teelicht, das darauf abgestellt war. Eine Flamme loderte auf. Lynn rutschte, konnte sich an der glitschigen Rinne nicht länger halten. Sie raste hinunter und scheuerte sich die Handflächen auf. Von oben kam ein Schrei: "Juuuliaaa! Waaasser, es breeennt!"
Lynn saß auf dem Boden. Sie tastete nach ihren Knöchel, der schmerzte. Um sie herum kläfften die beiden Pudel.
Sie blickte sich um. In ihrem Sturz hatte sie zwei der Tischdecken mit heruntergerissen. Perfekt! Sie wickelte Rudi in die eine, Trudi in die andere und machte sich unbemerkt aus dem Staub.

I. Der Narr