Akt II  
         
    Talbach    
    Madame Claire    
       

In dem Moment, in dem Lynn die Stadt erreicht hatte, hatte es kräftig zu regnen begonnen. Jetzt stand sie vor dem Eingangstor eines Talbacher Studentenwohnheims, trotz ihres Kapuzen-Sweaters fast bis auf die Haut durchgeweicht.
Hier also wohnten die selbst ernannten Tierschützer. Lynn betätigte eine Klingel zum ersten Stock, auf der fünf Namen standen, darunter auch die zwei Gesuchten. Sie traf Anne und Julia mit zwei männlichen Studenten beim Abendessen an.
Noch bevor sie die Gemeinschaftsküche betrat, kam ihr ein zweistimmiges Bellen entgegen. Rudi und Trudi! Sie sprangen an ihren Beinen hoch und leckten an ihren Händen.
Erleichtert tätschelte Lynn die Pudel. "Hab' ich euch wieder! Keine Angst, jetzt wird alles wieder gut!"
"Wir wissen, wer du bist", bemerkte die Dunkelhaarige der beiden Studentinnen, Julia.
"Wir haben dich beobachtet", fügte Anne hinzu, deren kurzes Haar blau-grün gefärbt war, "glaub' nicht, dass wir dich mit den Hunden einfach so gehen lassen."
"Zu eurer Information", entgegnete Lynn bissig, "ich quäle keine Tiere!"
"Ach ja?", entgegnete Julia. "Wir waren bei deiner Probe und haben gesehen, dass der schwarze Pudel fünf Minuten in eine dunkle Kiste eingesperrt ist, ehe du die Hunde austauschst."
"Was dem Zuschauer natürlich verborgen bleibt", ergänzte Anne, "denn sonst wäre es ja kein Trick... Wir haben die Zeit gestoppt", sie deutete auf ihre Digitaluhr, "dem weißen Hund ergeht es danach nicht besser."
"Sie können atmen", verteidigte sich Lynn, "da sind Löcher drin, in der Kiste."
"Oooh, wie gnädig", kommentierte Julia, "sie können sich also glücklich schätzen, nicht zu ersticken."
"Wärst du gerne fünf Minuten in so einer Kiste?", forderte Anne die Magierin heraus.
"Wir haben zwei Schülerinnen, die sich bei einer Zersägenummer in richtig enge Kästen quetschen. Für viel länger!", konterte Lynn.
"Menschen", verdeutlichte Julia, "die du um Erlaubnis fragen kannst." Lynn blickte hilfesuchend zur Decke. Als ob sie darauf wartete, dass ein gutes Argument vom Himmel fiele.
"Als wir die Pudel befreit haben, fanden wir sie in absolut unwürdigen Verhältnissen vor. Du kannst einen Hund nicht in einem Käfig halten. Er braucht Auslauf, Freiheit!"
"Das war eine Ausnahme", rechtfertigte sich das Mädchen und suchte Sicherheit darin, Trudi am Kopf zu kraulen. Doch konnte sie nicht verhindern, dass eine Träne über ihre Wange rollte. Gegen die geballte Argumentationskraft von zwei Älteren hatte sie keine Chance.
Einer der jungen Männer, die Lynn bisher ignoriert hatte, kam mit einem Becher aus der Kochecke. "Möchtest du eine heiße Schokolade? Du siehst ja ganz unterkühlt aus", fand er mit Blick auf Lynns nasse Kleidung.
Dankend nahm die Artistin das Getränk entgegen. Als alle fünf einen Platz in der Sitzecke gefunden hatten, herrschte erstmal Schweigen.
"Ich hätte euch ja gerne empfangen", meinte Lynn schließlich, "und mit euch geredet. Ihr habt ja nicht völlig unrecht wegen der Kiste. Aber gleich eine Entführung? Wie habt ihr überhaupt die Käfige aufgekriegt?"
"Mit einem Dietrich", gab Anne zu. Sie schien über Lynns Worte nachzudenken.
Dann sagte Julia: "Ich hätte da eine Idee, wie du es anders machen könntest."
Sie malte mit einem Filzstift ein Schaubild ans Fenster der Küchentür, welche offenbar der Wohngemeinschaft als Anschlagtafel diente.
"Ganz ohne die Kiste", endete sie, "und die Zuschauer würden keinen Unterschied bemerken."
Lynn streichelte nachdenklich einen der Hunde. Anne, die daneben saß, tat das Gleiche.
"Ja", meinte die Zauberin schließlich, "das könnte tatsächlich funktionieren. So einen Umhang habe ich sowieso." Sie schmunzelte wieder. "Wenn das aber was werden soll, dann müsst ihr auch zur Show kommen und mich unterstützen."
Anne und Julia schüttelten nacheinander Lynns Hand. "Abgemacht!"
Dann wickelten sie Rudi und Trudi in dicke Decken. Lynn nahm unter jeden Arm ein Bündel und verließ zufrieden das Studentenhaus.

      XX. Das Urteil