Akt II  
         
    Berge    
    Madame Claire    
       

Lynn empfand eine überwältigende Ohnmacht. Es war furchtbar, nichts tun zu können, sondern darauf angewiesen zu sein, dass andere die Probleme lösten, für die sie verantwortlich war. Es war blamabel genug, dass sie die einzige Teilnehmerin des Ferienlagers sein würde, die in der Abschlussvorstellung nichts vorzuweisen haben würde. Noch mehr plagte sie jedoch die Ungewissheit um das Schicksal von Rudi und Trudi. Zweier Lebewesen, deren Wohlbefinden man ihr anvertraut hatte und die sie nun im Stich gelassen hatte. Sie fühlte sich schuldig, des Vertrauens anderer nicht würdig.
Lynn hatte einen Ort für solche Momente. Gar nicht weit vom Zeltlager entfernt kannte sie eine Höhle in den Bergen, wohin sie sich schon des öfteren zurückgezogen hatte. Dort saß sie nun, blätterte lustlos in ihrem Zauberbuch, aß von einem Proviantpaket und stellte fest, dass sie am liebsten gar nicht mehr in die Zirkusschule zurückgekehrt wäre.
Ein Wimmern drang an ihre Ohren. Ein leises, gleichmäßiges Jaulen. Und es war nicht ihr eigenes.
Mühsam richtete Lynn sich auf und horchte. Das Geräusch kam von tiefer in der Höhle, dort wo sich der Gang so sehr verengte, dass kein Mensch - auch nicht ein so schmaler und gelenkiger wie Lynn - dort weiterkam.
Sie begab sich zu der Stelle und traute erst ihren Augen nicht. Da saß ein kleines, braunes Pelzbündel - ein Fuchskind! - eingeklemmt in einem schmalen Felsspalt und konnte sich nicht rühren. Welch jämmerlicher Anblick!
Lynn holte ein Messer aus ihrer Provianttüte sowieso einen größeren Stein und begann auf den Fels einzuklopfen. Der verängstigte Fuchs zuckte bei jedem Schlag. Irgendwann brach endlich ein Stück ab, und tatsächlich konnte das Tier sich befreien. Flink huschte der Fuchs in eine Ecke der Höhle.
Lynn stellte ihren leeren Teller auf den Boden und goss ein wenig Milch darauf. Tranken denn junge Füchse Milch?
Vorsichtig kam der Kleine herangeschlichen und nahm einen Schluck. Er blickte Lynn aus dunklen Augen argwöhnisch an, dann trank er mehr, erst langsam, dann immer gieriger.
'Wie lange der wohl da drin gesteckt hat', fragte sich Lynn besorgt. Sie brach ein Stück von ihrem Brötchen ab und legte es neben den Teller.
Der Fuchs nahm auch dieses Angebot ohne Umschweife an.
'Der ist ganz abgemagert', dachte Lynn, 'in diesem Zustand frisst er alles.'
Das Fuchskind schnappte den nächsten Bissen direkt aus Lynns Hand.
"Hey, jetzt habe ich dich schon gezähmt!", lachte sie und war selbst erstaunt über den plötzlichen Wandel ihrer Laune.
Sie stellte fest, dass der Welpe eigentlich eine Füchsin war und hatte auch gleich einen passenden Namen für sie: Judy!
Und dann hatte sie noch eine Idee. Sie blätterte weiter in ihrem Zauberbuch, bis sie die Seite mit dem passenden Trick aufgeschlagen hatte: 'Der Schlaue Hund'!
Würde sich 'Der Schlaue Fuchs' nicht noch besser machen?
Lynn stand auf und lief zurück ins Lager, auf der Suche nach weiteren Nahrungsmitteln für ihre neu gefundene Freundin.

    VI. Die Liebenden XX. Das Urteil