Akt II  
         
    Berge    
    Madame Claire    
       

Als alle anderen Jungen im Zelt eingeschlafen waren, machte sich Rob noch einmal auf den Weg zu der Höhle in den Bergen. Er war einfach zu aufgeregt über seine Erkenntnis, um jetzt schlafen zu können. Ja, er wollte Artist sein, aber ein Skateboard-Artist!
Leise hüllte er sich in seine dicke Jacke, zog die Mütze tiefer ins Gesicht und trat hinaus in den Regen, um sich unbemerkt aus dem Zeltlager zu schleichen.
Diesmal hatte er eine Taschenlampe dabei. Er konnte nicht weit leuchten und wäre auch das eine oder andere Mal fast über eine Zeltschnur gestolpert. Doch dann stand er am Rande des Wäldchens, das den Campingplatz von den Bergen trennte.
Rob stapfte im Mondlicht über den matschigen Boden - keine Chance, hier mit dem Skateboard voran zu kommen. Diesmal ohne Musik unterwegs fand Rob durchaus Gefallen an dem prasselnden Regen. Einmal meinte er sogar, eine Eule zu hören.
Nun war er auf dem Wanderweg durch das Gebirge unterwegs. Hier ging es mit dem Skateboard. Er leuchtete die rechte Seite des Pfades ab, wo immer neue Felsformationen erschienen. Im Taschenlampenlicht waberten und regten sich die Formen, so dass Rob einige vorkamen wie Augen, die seinen Weg verfolgten oder Münder, die mit ihm sprachen. Als wären die Geister der Berge mit ihm.
Bei aller Faszination für das Felsgestein hätte Rob fast den Einstieg der Höhle verpasst. Doch er fuhr nochmal einige Meter zurück, und dann war sie da: die Felsspalte.
Rob zwängte sich hindurch und machte sich bereit zu leuchten. Doch es brannte schon Licht!
In der Mitte des hohen Raumes saß im Schneidersitz ein blondes Mädchen vor einer Kerze. Ein kleiner Fuchs turnte um sie herum! Das Mädchen trug einem grünen Kapuzenpullover, der sie wie eine Magierin in einer mittelalterlichen Kutte erscheinen ließ.
Lynn!
Und irgendwie machte das alles Sinn. Lynn war schon immer eigenbrötlerisch und von einer geheimnissvollen Aura umgeben gewesen. Nur selten sah man sie mit anderen zusammen. Viel lieber schien die Magierin sich in ihre Bücher zu vergraben. Und so war es auch kein Wunder, dass es Spekulationen gab über besondere Fähigkeiten, die sie angeblich besaß.
Und hier war Rob ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen, hatte herausgefunden, wohin Lynn sich die ganze Zeit zurückzog. Krass!
Rob stellte aber auch fest, dass er Lynn noch nie so fröhlich und gelöst erlebt hatte wie hier mit dem kleinen Fuchs. Die kristallgrauen Augen des Mädchens glänzten hinter ihren Brillengläsern und die hellen Wangen waren gerötet vor Freude. Noch mehr als das Kerzenlicht war es wohl Lynns Lächeln gewesen, das ihn beim Betreten der Höhle angestrahlt hatte.
Es war ihm noch nie vorher aufgefallen, dass gerade Lynn so... schön war! Er hatte aber auch noch nie darüber nachgedacht.

Judy war großartig! Sie ließ sich von Lynn fast so dressieren wie ein Hund. Nur war sie wesentlich wilder, unberechenbarer und dazu noch von jugendlichem Temperament. Bei allem Spaß, den Lynn mit dem anhänglichen Tier hatte, es würde eine ganze Nacht harter Arbeit erfordern, um bis zum morgigen Tag eine passable Zirkusnummer zu Stande zu bekommen. Es war ermüdend!
Im Grunde genommen genoss Lynn die Ruhe und Sicherheit, die die Einsamkeit der Höhle ihr bot. In der Zirkusschule wäre sie viel zu angespannt gewesen, um mit Judy irgendetwas erreichen zu können - und die Füchsin vermutlich auch.
Aber es gab Momente, in denen sehnte sie sich jetzt nach einem abendlichen Gespräch mit Elena in ihrem Wohnwagen. Und es gab auch Augenblicke, da waren alles, woran sie denken konnte, die tiefen, dunklen Augen von Rob und seine lässige Art, die Dinge nicht so wichtig zu nehmen.
Und dann stand er einfach vor ihr! Und fragte: "Stimmt es wirklich, dass du mit Tieren sprechen kannst?"
Und sie fragte sich, ob er das wirklich gefragt hatte.
"Na, du bist ja süß", lachte Lynn, "wer sagt denn sowas?"
"N-na, alle. Ist nur so'n Gerücht."

Hatte sie wirklich 'süß' gesagt? Lynns Satz hallte in Robs Ohren wider. "Nun, ich denke, alle können in irgendeiner Form mit Tieren sprechen", meinte Lynn, "nur eben nicht unbedingt durch Worte."
Sie bot Rob, der noch immer bewegungslos am Eingang stand, ihren Zauberstab an, auf den ein Stück Brot gespießt war. "Komm und probier es aus."
Da war es wieder, dieses strahlende, einladende Lächeln. Lynn hätte sonst was vorschlagen können, Rob wäre dabei gewesen.
Am Ende trainierten also beide mit Judy den Trick. Und als sie endlich glücklich und zufrieden nebeneinander gekuschelt in einer Nische der Höhle einschliefen, ging draußen schon die Sonne auf.
Als die beiden wieder erwachten, war es Mittag. Sie würden die Eröffnung der Zirkusshow verpassen. Jetzt ging es nur noch darum, rechtzeitig zu ihren eigenen Auftritten einzutreffen.

XI. Kraft XII. Der Gehängte XVI. Der Turm