Akt II  
         
    Talbach    
    Madame Claire    
       

Rob war auf dem Weg zurück in die Zirkusschule. Er war vom Regen durchnässt, hatte sein Skateboard verloren und war vor einer Herausforderung geflohen.
Er wünschte sich, er wäre jetzt schon dort. Immerhin war das Ferienlager eine sichere Umgebung, verglichen mit den Unberechenbarkeiten des Talbacher Nachtlebens. Und irgendwie vermisste er in diesem Moment auch Elena und Lynn - er vermisste Freunde!
Aber war sie das nicht, auf der anderen Straßenseite? Lynn? Er erkannte im Licht der Straßenlaternen ihren grünen Kapuzenpullover, der sie immer ein bisschen wie eine echte Zauberin aussehen ließ, wie mit einer Magierkutte. Aber was trieb Lynn hier, und vor allem um diese Uhrzeit?
Lynn war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Man sah sie nur selten mit anderen. Sie umgab eine Aura des Geheimnisvollen. Manche behaupteten etwa, sie könne mit Tieren sprechen. Er holte sie ein.
"Hey, was geht?"
Sie fuhr herum und legte die Wollbündel ab, die sie unter beiden Armen trug. Dann nahm sie ihre Kapuze ab. Sie entblößte vom kalten Regen gerötete Wangen, die im Kontrast zu ihrem hellen Haar standen. Der ordentliche Zopf, zu dem sie es normalerweise gebunden trug, war zerwühlt.
Rob musste zugeben, dass Lynn eigentlich ziemlich hübsch war.
"Hi Rob, mit dir hatte ich ja fast gerechnet."
Gerechnet? Nun ja, sie war nicht umsonst Schülerin einer Wahrsagerin.
Aber dann wickelte Lynn vorsichtig eines ihrer Pakete aus. Robs Skateboard!
"Hier, habe ich in einem Gebüsch gefunden!"
Rob konnte es kaum glauben. "Wow! Danke, Mann. Ich hatte gedacht, das sehe ich nie wieder!" Rob entstaubte das Board, testete die Räder.
"Jetzt bist du mir aber eine Erklärung schuldig - 'Mann'", fand Lynn.
"Äh, ich war gerade auf dem Rückweg", erklärte Rob, "vielleicht können wir ja zusammen gehen, dann erzähl' ich dir die Story unterwegs?"

'Angeber', dachte Lynn, als Rob auf dem Weg entlang des Baches von seinen nächtlichen Eskapaden berichtete. Diskos waren nichts für sie, dafür waren sie noch zu jung. Aber gerade deshalb brüsteten sich Typen wie Rob ja so gerne damit, wenn sie in eine reingekommen waren.
Doch dann änderte sich sein Tonfall.
"...sollte ich auf die Bühne. Ich hab's nicht gecheckt. Bin einfach raus und weggerannt. Shit!" Er schmiss die Zeitung fort, mit der er sich vor dem Regen geschützt hatte. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen.
Sie musterte ihn.
'Eigentlich ist er auch nur ein kleiner, hilfloser Junge', dachte sie. Sie nahm ihn vorsichtig in den Arm.
"Das ist doch nicht schlimm. Das nennt man Lampenfieber. Ich habe das auch, mehr als du denkst!", tröstete sie.
Er blickte auf, und sie sah Tränen in Robs tiefen, braunen Augen.
"Sorry", meinte der.
"Vielleicht können wir uns ja mal einen Moment da drüben hinsetzen", sie deutete auf eine Trauerweide, deren Zweige schützend den Bach überdeckten, "dann berichte ich dir von meinen Abenteuern." Und sie fügte hinzu: "Wir kommen sowie zu allem zu spät heute abend."

Rob starrte durch die Zweige hindurch auf die Sterne, die hin und wieder zwischen den Wolken hervorlugten.
Was für eine Geschichte! Eine Entführung! Und Lynns heldenhafter Einsatz für ihre Pudel, die nun unter dem Regenschutz auch wieder frei herumsprangen.
"Du kannst gut erzählen", meinte Rob am Ende, "du hast Talent!"
Mehr als die Geschichte selbst hatte Rob die Art und Weise gefangen genommen, mit der Lynn sie vorgetragen hatte. Er hatte gebannt zugesehen, wie sich ihr Mund im flackernden Licht der aufgestellten Kerze bewegt hatte, wie ein Regentropfen über ihre Wange gerollt war, wie ihre klaren, grauen Augen glänzten, wenn sie von etwas begeistert war, und wie sie immer wieder für sie typische Gesten benutzte.
"Das ist nett, dass du das sagst." Lynn berührte kurz Robs Schulter. "Echt, das hilft. Wo ich doch auf der Bühne immer gleich Panik kriege, wenn ich mehr als drei Worte sprechen soll."
'Das ist nett, dass du das sagst', wiederholte Rob im Geiste. Er glaubte in dem Moment, dass er sich noch Jahre später an diesen Satz erinnern würde. Nicht wegen der Worte selbst, sondern wegen der Art, wie sie es gesagt hatte. Wie sie dabei gelächelt und ihn angesehen hatte.
"Was ist?", fragte sie.
Und er reimte:

"Ich sah nie graue Augen
klarer als Eis
oder ein Mädchen, das zaubert,
wenn sie Dinge beschreibt.

Doch wie hätt' ich sie seh'n soll'n
im Scheinwerferlicht?
Denn ein Stern strahlt im Dunkeln,
anders sieht man ihn nicht."

Lynn gab ihm einen Kuss auf die Wange. Rob errötete.
"Wir müssen weiter", sagte er. Dann wickelte er geschickt die beiden Hunde wieder ein und half Lynn aufzustehen.
Den ganzen Weg bis zur Zirkusschule ließen sie einander nicht wieder los. Sie trennten sich erst in der Morgendämmerung, als sie ihre Schlafplätze aufsuchten.
Es war Mittag, als jeder von ihnen unsanft von Elena geweckt und mit größter Eile zum Zirkuszelt getrieben wurde. Dort hatte bereits die Abschlussveranstaltung begonnen.

XI. Kraft XII. Der Gehängte XVI. Der Turm